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Wie man über den Krieg in Sudan sprechen sollte – und wie nicht

Megatrends Spotlight 30, 22.04.2024

Die Berichterstattung über den Krieg in Sudan wird durch drei gängige Erzählungen vernebelt, vom "vergessenen Konflikt", der "Auseinandersetzung zweier Generäle" und dem "Stellvertreterkrieg". Gerrit Kurtz (SWP) wirbt für eine nuanciertere Betrachtungsweise durch Journalist:innen und Politiker:innen.

 

In der internationalen Berichterstattung und in politischen Stellungnahmen zum Krieg im Sudan werden häufig drei irreführenden Erzählungen über den Ursprung, die Dynamik und die Auswirkungen des Konflikts benutzt. Diese einseitigen Ansichten betreffen die mangelnde internationale Aufmerksamkeit, die Rolle des Sicherheitssektors und die Einmischung externer Akteure - alles wichtige Aspekte des anhaltenden Konflikts, die hervorgehoben werden sollten. Die gewählten Narrative vereinfachen und verdrehen den Diskurs jedoch oft auf problematische Weise. Es ist verständlich und sogar notwendig, dass Journalist:innen und internationale politische Entscheidungsträger:innen zu Abkürzungen greifen, um den komplexen Krieg im Sudan für Außenstehende verständlicher zu machen. Und natürlich gibt es hervorragende Berichte und differenzierte Erklärungen.  Doch einseitige Narrative laufen Gefahr, die Handlungsmacht von nationalen und internationalen Akteuren sowie deren jeweilige Optionen, um die Waffen in Sudan schweigen zu lassen, zu verdrehen.

 

Der „vergessene“ Konflikt

Es ist unbestreitbar, dass die Kämpfe im Sudan international relativ wenig Beachtung gefunden haben. Dies hat jedoch weniger mit Vergesslichkeit als vielmehr mit Ignoranz zu tun.

Gemessen an der Zahl der hochrangigen politischen Erklärungen, dem Ausmaß der internationalen Berichterstattung und dem Umfang der durch den humanitären Appell der Vereinten Nationen aufgebrachten Mittel scheint der Sudan-Krieg marginal im Vergleich zu den beiden heutigen Hauptkonflikten: Ukraine und Gaza. In den letzten 12 Monaten erwähnte das Bundeskanzleramt beispielsweise die Ukraine in 190 Pressemitteilungen und Sudan nur drei Mal. Im gleichen Zeitraum hat die New York Timesfast zehnmal so viele Artikel über den Gaza-Streifen veröffentlicht wie über Sudan und mehr als 13-mal so viele über die Ukraine. Und während der UN-Aufruf für die besetzten palästinensischen Gebiete zu 104 Prozent finanziert ist, betrug die Finanzierung des Aufrufs 2024 für den Sudan nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) weniger als 6 Prozent (bevor die Pariser Konferenz am 15. April weitere 2 Milliarden US-Dollar mobilisierte).

Um es klar zu sagen: Wenn es um menschliches Leid geht, sollte es keinen Wettbewerb geben. All diese Konflikte (und andere) erfordern Aufmerksamkeit sowie die damit verbundenen Ressourcen und diplomatisches Kapital. Diskrepanzen bei den Ressourcen und dem Umfang der Aufmerksamkeit bestehen aus so offensichtlichen Gründen wie geografischer Nähe, internationalen Verflechtungen und der Verfügbarkeit von Medienberichten.

Angesichts des Ausmaßes des Leids im Sudan sind die Unterschiede jedoch eklatant. Der Sudan hat sich zur größten Vertreibungskrise der Welt entwickelt. Nirgendwo sonst wurden so viele Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen - rund 11 Millionen, davon mehr als acht Millionen seit Beginn des Krieges am 15. April 2023. Mit zunehmender Dringlichkeit warnen die Vereinten Nationen und humanitäre Organisationen vor einer drohenden Hungersnot und davor, dass der Sudan die "größte Hungerkrise der Welt" erlebt.

Das eigentliche Problem, den Krieg im Sudan als "vergessen" zu bezeichnen, liegt jedoch woanders.  Das Wort impliziert, dass wir uns nur an den Sudan "erinnern" müssen, auch wenn viele Menschen hier in Europa gar nicht viel darüber wissen.

Darüber hinaus wird der Eindruck erweckt, dass die mangelnde Aufmerksamkeit zufällig ist, während sie in Wirklichkeit auf das bewusste Handeln verschiedener Akteure zurückzuführen ist - nicht zuletzt auf die Kriegsparteien, die die Medienfreiheit sowohl der sudanesischen als auch der internationalen Medien stark eingeschränkt haben. Erst vor kurzem haben die mit den sudanesischen Streitkräften verbündeten De-facto-Regierungsbehörden die Lizenzen von drei arabischsprachigen Medienkanälen entzogen.

Auch Geberländer tragen ihren Teil zur Ignoranz wenn nicht gar Verschärfung der Krise in Sudan bei. Viele Geber - darunter auch Deutschland - haben ihrerseits in den letzten Jahren ihre globalen Hilfsbudgets gekürzt. Die Europäische Union fordert die sudanesischen Nachbarländer Ägypten und Libyen auf, die Sicherheit an ihren Grenzen zu erhöhen und die irreguläre Migration über das Mittelmeer einzudämmen. Die Sudanes:innen gehören zu den Menschen, die versuchen, sich auf dieser Route durchzuschlagen, und die unter den schädlichen Praktiken leiden, die durch die feindselige europäische Migrationspolitik gefördert werden. Die Unterstützung der EU für Sudan unter dem damaligen Präsidenten Omar al-Bashir trug dazu bei, dass die schnellen Eingreiftruppen (Rapid Support Forces - RSF) an Bedeutung gewannen, auch wenn diese nicht direkt von der EU finanziert wurden.

Das Narrativ des "Vergessens" entlastet die westlichen Regierungen von ihrer Rolle bei der Unterstützung der sudanesischen Sicherheitskräfte und marginalisiert gleichzeitig den friedlichen Widerstand der sudanesischen Zivilgesellschaft, die sich weiterhin gegen die Militarisierung mobilisiert. Auf diese Weise kann dieses Narrativ an eine vermeintlich liberal-interventionistische Agenda anknüpfen, die es im Zuge der „Save Darfur“ Kampagne bereits einmal gab. Zugespitzt impliziert solch eine Agenda, die Probleme der von Konflikten betroffenen Länder mit lokalen Akteuren in Verbindung zu bringen und deren Lösungen außerhalb dieser Länder zu finden. Angesichts der aktuellen Überforderung westlicher Akteure, mit den anderen Großkrisen dieser Zeit umzugehen, ist ein Übermaß an westlichen Interventionismus zugegebenermaßen derzeit nicht die größte Gefahr für Sudan.

„Machtkampf zweier Generäle“

Eine zutreffendere Beschreibung als "Krieg zweier Generäle" wäre "Krieg der Militarisierung", d.h. ein Konflikt, der immer mehr Gruppen dazu verleitet zu den Waffen zu greifen, und damit den Raum für diejenigen verkleinert, die versuchen, politische Ziele auf gewaltfreie Weise zu verfolgen.

Es stimmt, dass die Führungsambitionen sowohl von General Abdel-Fattah al-Burhan, dem Oberbefehlshaber der sudanesischen Streitkräfte (SAF), als auch von General Mohamed Hamdan Dagalo (alias Hemedti), dem Kommandeur der RSF, beim Ausbruch des Krieges im vergangenen April eine Rolle spielten. Hinter den Kulissen waren sich beide nicht grün: Jeder wollte an der Spitze des sudanesischen Sicherheitssektors stehen und betrachtete den anderen als Rivalen. Dennoch können weder die Ursprünge des Krieges noch seine Entwicklung einfach auf persönliche Rivalitäten zurückgeführt werden.

Im Mittelpunkt des Konflikts steht der Kampf um die Kontrolle über den sudanesischen Sicherheitssektor und damit auch über den Staat selbst. Die Militärregierungen haben das Land während der meisten Zeit nach der Unabhängigkeit regiert und die Bevölkerung in den Randgebieten ausgebeutet. Wann immer einige Angehörige dieser marginalisierten Gruppen rebellierten, übertrugen aufeinander folgende sudanesische Regierungen die Aufgabe, sie zu bekämpfen, an ethnische Milizen und paramilitärische Kräfte. Der frühere Präsident Omar al-Bashir nutzte diese Kräfte, um innerhalb des Sicherheitssektors Konkurrenz zu schaffen und so das Militär in Schach zu halten und zu verhindern, dass es seine Herrschaft in Frage stellt.

Die RSF war die bekannteste - und letztlich auch mächtigste - der sudanesischen paramilitärischen Kräfte. Sie ging aus der auch als „Janjaweed“ bezeichneten Rizeigat-Miliz hervor, die zur Niederschlagung des Aufstands in Darfur eingesetzt wurde. Der Krieg, der im April 2023 ausbrach, hat seinen Ursprung also vor allem in der institutionellen Konkurrenz zwischen der SAF und der RSF um die Vorherrschaft im Staat.

Viele zivile politische Führer sind der Ansicht, dass die Hauptverantwortung für den Krieg bei den Loyalisten der Nationalen Kongresspartei (NCP) des ehemaligen Bashir-Regimes liegt. Viele von ihnen sind jetzt in der Sudanesischen Islamischen Bewegung organisiert. Diese Islamisten, die von der 2019 eingesetzten Übergangsregierung inhaftiert, ins Exil verbannt oder aus anderen Gründen von der Politik und den öffentlichen Institutionen ausgeschlossen wurden, sind seit dem Militärputsch vom Oktober 2021 wieder stark vertreten. Sie sind eng mit der SAF verbündet und operieren im Verborgenen.

Vielleicht noch wichtiger ist, dass es viele weitere kämpfende Kräfte gibt, die formal weder der SAF noch der RSF direkt unterstellt sind. Auch wenn sie sich der einen oder anderen Seite anschließen und an ihrer Seite kämpfen, verfolgen sie doch ihre eigenen opportunistischen Ziele, und das kann sie noch in Konflikt mit ihren derzeitigen Verbündeten in der SAF oder der RSF bringen.  Zu diesen Kräften gehören die Popular Defence Forces, operative Einheiten des General Intelligence Service, einzelne Milizen, ethnische Selbstverteidigungsgruppen, bewaffnete Gruppen aktueller oder ehemaliger Rebellen sowie ausländische Kämpfer und Söldner. Außerdem haben bewaffnete Gruppen mit Unterstützung der SAF neue Rekrutierungskampagnen gestartet.

Trotz dieser Fragmentierung konzentrieren sich internationale Vermittlungsbemühungen überwiegend auf die zwei Hauptkonfliktparteien und ihre jeweiligen Führungen. Im Dezember und Januar bemühte sich die die Zwischenstaatliche Behörde für Entwicklung (IGAD), ein persönliches Treffen von General Burhan und General Hemedti zu arrangieren und vereinbarte mehrere Termine. Weniger als 24 Stunden vor einem geplanten persönlichen Treffen musste der IGAD-Vorsitzende Dschibuti das Treffen absagen, weil Hemedti andere Pläne hatte, nämlich eine ausgedehnte Regionalreise zu unternehmen, um sein internationales Ansehen zu stärken.

Die Führer der Hauptkriegsparteien an einen Tisch zu bringen, ist ein üblicher Vermittlungsansatz, aber leider auch wichtige dritte bewaffnete oder unbewaffnete Parteien von eventuellen Friedensverhandlungen auszuschließen Frühere Friedensprozesse in Sudan, einschließlich der Naivasha-Gespräche, die 2005 den Nord-Süd-Krieg beendeten, litten unter diesem Mangel an Einbeziehung. Am wichtigsten ist vielleicht, dass es immer wahrscheinlicher wird, dass selbst wenn Burhan und Hemedti ein glaubwürdiges Waffenstillstandsabkommen unterzeichneten und aufrichtig beabsichtigen, es einzuhalten, viele ihrer Verbündeten sich nicht an diesen Vertrag halten würden. Schließlich könnte Burhan einfach durch einen anderen General ersetzt werden, der den islamistischen Kräften, die ein Abkommen mit der RSF vehement ablehnen, nähersteht.

"Es ist ein Stellvertreterkrieg."

Das dritte und letzte Missverständnis besteht darin, dass der Sudankonflikt als Stellvertreterkrieg eingestuft werden kann, d. h. als ein Krieg, bei dem eine externe Macht indirekt in einen Konflikt mit einer anderen externen Macht eingreift, indem sie eine Kriegspartei in einem Drittland unterstützt. Diese Sichtweise birgt die Gefahr, dass die primäre Rolle, die einheimische Akteure im Sudankrieg spielen, unterschätzt werden sowie die Gründe, warum sie überhaupt nach internationaler Unterstützung suchen.

Es lässt sich nicht leugnen, dass die internationale Einmischung im Sudan erheblich ist. Ägypten und Iran liefern Waffen (direkt an die SAF), ebenso wie die VAE (über Tschad an die RSF). Eritrea stellt Ausbildungslager für bewaffnete Gruppen bereit, die mit der SAF verbunden sind. Aus Libyen und dem Südsudan wird Berichten zufolge Treibstoff an die RSF geliefert, nicht unbedingt immer auf Veranlassung der jeweiligen Regierungen. Und ukrainische Spezialeinheiten kämpfen in Khartum gegen die RSF und russische Söldner, offenbar als Gegenleistung dafür, dass die SAF Waffen an die Ukraine geliefert hat.

Auch wenn diese Liste wahrscheinlich nicht vollständig ist, zeigt sie doch deutlich, wie viele externe Akteure sich in Sudan einmischen und dass der Krieg nicht auf einen einfachen bipolaren Stellvertreterkonflikt reduziert werden kann. Einige Kommentatoren sehen die Konfrontation beispielsweise zwischen den VAE und Saudi-Arabien oder den VAE und dem Iran, obwohl es keine Beweise dafür gibt, dass Saudi-Arabien die SAF derzeit militärisch unterstützt (und wenn es dies tun würde, wäre es unwahrscheinlich, dass die RSF ihre Vermittlerrolle akzeptiert, wie sie es mehrfach getan hat, indem sie sich an Verhandlungen in Jeddah beteiligte). Die wichtigsten externen militärischen Unterstützer des Sudan sind Ägypten und die Vereinigten Arabischen Emirate, die trotz ihrer Meinungsverschiedenheiten über Sudan sehr enge bilaterale Beziehungen unterhalten, wie die jüngste Ankündigung einer emiratischen Investition in Höhe von 35 Mrd. USD zur Entwicklung der ägyptischen Küste unterstreicht. Weder die SAF noch die RSF kämpfen primär für die Ziele dieser externen Unterstützer, sondern für ihre eigenen.

Der Begriff "Stellvertreterkrieg" macht es Außenstehenden leichter, sich ein Bild von dem komplexen Konflikt zu machen. Er ermöglicht es ihnen, den Krieg als Ausdruck einer Rivalität zwischen Groß- oder Mittelmächten zu sehen, mit denen sie besser vertraut sind als mit Sudan. Dieses Narrativ suggeriert, dass es primär eine Verständigung der externen Sponsoren der mutmaßlichen Stellvertreter bräuchte, um den Krieg zu beenden.

Eine zu enge Fokussierung auf die Aktivitäten externer Akteure in Sudan könnte die Interessen der der Zivilbevölkerung in den Hintergrund drängen. Wenn es in dem Krieg vor allem um den russischen und iranischen Einfluss geht, könnten andere internationale Akteure versuchen, diesen Einfluss einzudämmen, indem sie den Forderungen ihrer sudanesischen Klienten nachgeben. Berichten zufolge haben die sudanesischen Behörden die iranische Bitte für den Bau eines Marinestützpunkts am Roten Meer bisher abgelehnt, doch könnten sie diese Forderung als Druckmittel gegenüber den Saudis, den Emiraten oder den Amerikanern einsetzen. So fordern die SAF beispielsweise, dass zivile Parteien von jeder Nachkriegs-Übergangsregierung ausgeschlossen werden, die lediglich aus einem "technokratischen" Kabinett bestehen solle.

Einseitige Analysen führen zu einer verfehlten Politik

Es ist wichtig, wie externe Beobachter:innen politische Themen diskutieren- vor allem, wenn sie es gut meinen. Eine differenzierte Betrachtungsweise ist wichtig, gerade weil relativ wenig über Sudan geschrieben wird. Statt von „vergessenem Konflikt“, sollten Beobachter:innen besser von „missachtetem Konflikt“ sprechen, statt vom „Krieg zweier Generäle“ besser vom „Krieg zwischen den wichtigsten Armeen und ihrer Verbündeten auf Kosten der Zivilbevölkerung“ bzw. einem „Krieg der Militarisierung“ des Landes. Und statt von „Stellvertreterkrieg“ sollten sie besser von „externem Einfluss“ sprechen.

Auf diese Art und Weise wird es leichter, über effektive Ansatzpunkte für deutsches und europäisches Engagement in Sudan zu sprechen. Diese gibt es insbesondere dort, wo europäische Akteure Verbindungen, Einfluss und Kapazitäten haben bzw. wo sie die bereits existierenden Anstrengungen sudanesischer und regionaler Akteure unterstützen können. Dazu gehört, die negativen Auswirkungen europäischer Migrationspolitik in der Region zu revidieren, weitere Hilfsgelder zu mobilisieren, das finanzielle und militärische Netzwerk der Konfliktparteien im Ausland stärker zu sanktionieren, eigene Waffenlieferungen an Länder wie die VAE zu überdenken sowie zivile Akteure in Sudan und im regionalen Exil mit Ressourcen, Expertise und Mediationsangeboten zu unterstützen.

Die Waffen in Sudan zum Schweigen zu bringen ist eine überaus komplexe Herausforderung, zu der europäische Akteure nur einen Teilbeitrag leisten können. Wie sie über die Geschehnisse in Sudan sprechen, liegt jedoch in ihrer Macht.

Dr. Gerrit Kurtz ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).