Direkt zum Seiteninhalt springen
Tunis, 2023: Bürger der Elfenbeinküste am Flughafen in Tunis. Nach den Äußerungen von Präsident Saied entschieden sich einige für die Rückkehr in ihr Land.

Tunis, 2023: Bürger der Elfenbeinküste am Flughafen in Tunis. Nach den Äußerungen von Präsident Saied entschieden sich einige für die Rückkehr in ihr Land.

Afrikanisch sein oder nicht?

Blog Joint Futures 07, 05.10.2023

Der ehemalige tunesische Präsident Moncef Marzouki (2011-2014) zeichnet Bruchlinien der politischen und kulturellen Zugehörigkeit in der Region nach, die sich in der tunesischen Identitätsfrage spiegeln. Wachsende Migrationsbewegungen in Richtung Europa und die Externalisierung der europäischen Migrationspolitik stellen Tunesien und die Maghrebstaaten vor die Frage, in welchem Verhältnis sie zu Subsahara-Afrika stehen.

 

Am 25. Juli 2021 ergriff Kais Saied die uneingeschränkte Macht in Tunesien. Erst 2019 war er demokratisch zum tunesischen Präsidenten gewählt worden. Anschließend löste er das Parlament auf und schaffte die erste und einzige demokratische Verfassung ab, die Tunesien jemals gehabt hatte.

In einer Erklärung vom 21. Februar 2023 sprach er davon, dass Tunesien von „Horden illegaler Migranten“ belagert werde, die eine Ursache für „Gewalt, Verbrechen und inakzeptablen Taten“ seien. Damit meinte er afrikanische Migrant*innen, die versuchten, über Tunesien nach Europa zu gelangen.

Saied betonte, dass ihre Anwesenheit in Tunesien schnell ein Ende finden müsse. Diese illegale Einwanderung sei Teil eines „kriminellen Unterfangens“, das zu Beginn des Jahrhunderts geplant worden sei, um die demographische Zusammensetzung Tunesiens zu verändern“. Das Ziel dieser Verschwörung sei es, Tunesien in ein „rein afrikanisches“ Land zu verwandeln und seinen „arabisch-muslimischen Charakter“ zu verdrängen.

Diese Rede hatte dramatische Folgen. Auf menschlicher Ebene führte sie zu einer regelrechten Hetzjagd auf schwarze Menschen. Studierende mit regulärem Aufenthaltsstatus wurden auf der Straße belästigt; viele wandten sich an ihre Konsulate mit der Forderung, sie in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Ganze Familien wurden aus ihren Wohnungen vertrieben. Racial Profiling wurde zur Norm, von der auch dunkelhäutig gelesene Tunesier*innen betroffen waren. Schlimmer noch, Migrant*innen wurden an die libysche Grenze zurückgebracht und dort mitten in der Wüste ohne Wasser und Lebensmittel sich selbst überlassen.

Auf politischer Ebene hat dieser Skandal Tunesiens Image weiter beschädigt – ein Land, das 2011 mit seiner demokratischen und friedlichen Revolution den sogenannten Arabischen Frühling auslöste und damit der Stolz der arabischen Welt und Afrikas war.

Vor allem aber hat diese düstere und beschämende Episode der modernen Geschichte Tunesiens gezeigt, wie tief drei große Fragen reichen, die nicht nur Tunesien, sondern den gesamten Maghreb beschäftigen: jene nach der Identität, der regionalen Integration und der geostrategischen Verortung.

Die Rede des Putschisten-Präsidenten drehte sich im Kern um die nach wie vor ungelöste Frage, wer wir, die Tunesier*innen und Maghrebiner*innen, eigentlich sind.

Auf diese Frage gibt es in Tunesien, wie im übrigen Maghreb, zwei Antworten, die relativ eng mit der sozialen Zugehörigkeit verbunden sind. Für einen konservativen Teil der Bevölkerung mit niedrigerem sozioökonomischen Status ist unsere Identität ohne Zweifel arabisch-maghrebinisch. `Maghreb´ bedeutet im Arabischen `Westen´, was darauf verweist, dass wir am westlichen Rand der arabisch-muslimischen Welt sind.

Für das westlich orientierte und weitgehend säkularen Bürgertum sind wir in erster Linie Anrainer*innen des Mittelmeerraums, Bewohner*innen des südlichen Westens, wobei mit Westen hier Europa gemeint ist.

Insbesondere in Algerien, Marokko und Libyen werden außerdem zunehmend Stimmen laut, die eine identitäre Zugehörigkeit zur Kultur der Berber oder Amazigh beanspruchen.

Dagegen gibt es keine Stimmen, die sich auf eine afrikanische Identität berufen – obwohl ein Teil der Bevölkerung, insbesondere im Süden der Maghrebstaaten, aus Subsahara-Afrika stammt. Sogar das Wort `Afrika´ selbst leitet sich von dem Begriff `Ifriqiya´ ab, der ursprünglich den Nordwesten Tunesiens bezeichnete und später auf den gesamten Kontinent ausgeweitet wurde.

Die Ablehnung der afrikanischen Identität hat ihren Ursprung in einem Rassismus nach brasilianischem Muster. Bis heute werden Menschen umso niedrigerer auf der sozialen Leiter eingeordnet, je dunkler ihre Hautfarbe ist. Mit diesem latenten Rassismus und der impliziten Zurückweisung unseres Afrikanisch-seins spielte nun der gegenwärtige Putschisten-Präsident. Er erntete dafür Beifall, denn nichts funktioniert heutzutage besser als die populistische Rhetorik der extremen Rechten, die die niedrigsten Instinkte einer Gesellschaft anspricht.

Die menschliche Natur ist leider überall und zu allen Zeiten die gleiche. Deshalb betrachtete der Maghreb im Laufe seiner Geschichte Subsahara- Afrika nur als ein Gebiet, in dem es Reichtümer (hauptsächlich Gold und Menschen für den Sklavenhandel) zu plündern und die eigene Sprache und Religion zu verbreiten galt. Es ist die gleiche Art von kolonialer Beziehung, die der Kontinent unter europäischer Herrschaft erlitten hat.

Die zweite Frage, die durch die rassistische Tirade des Präsidenten mit Gewalt auf die Tagesordnung gesetzt wurde, ist eine politische: In welchen regionalen Raum sollen sich unser Land und der Maghreb integrieren?

Die Arabische Liga ist seit ihrer Gründung im Jahr 1945 eine leere Hülle. Das 1989 in Marrakesch gegründete Projekt der Union des Arabischen Maghreb (UAM), die Libyen, Tunesien, Algerien, Marokko und Mauretanien umfassen sollte, ist aufgrund des Konflikts zwischen Marokko und Algerien um die Westsahara tot und begraben. Die Versuche des ehemaligen marokkanischen Königs Hassan II, der Europäischen Union (EU) beizutreten, lehnte Europa höflich ab. Was also bleibt übrig?

Für die maghrebinischen Politiker*innen, die ihren Gesellschaften ausnahmsweise einmal voraus waren, war die Suche nach engeren Verbindungen mit den Ländern südlich der Sahara die Lösung für die Blockade der interarabischen und intermaghrebinischen Integration.

Der Wettlauf um Subsahara-Afrika wurde durch Libyen unter Muammar Gaddafi eröffnet, der sich als König von Afrika träumte. Weniger folkloristisch und besser organisiert war die marokkanische Politik, die Märkte Zentral- und Westafrikas zu erschließen. Algerien folgte Marokko im Zuge einer Rivalität in alle Himmelsrichtungen. Tunesien war unter Präsident Ben Ali in diesem Rennen völlig außen vor. Diese Abwesenheit, die in erster Linie meinem Land geschadet hat, musste so schnell wie möglich behoben werden.

Nach meinem Amtsantritt als Interims-Präsident 2011 besuchte ich zahlreiche afrikanische Hauptstädte in Begleitung einer Delegation mit rund 100 Unternehmensvertreter*innen, um Beziehungen für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Handel zu knüpfen.

Wir wurden überall sehr herzlich empfangen und brachten Kooperationsvorhaben, insbesondere im Gesundheits- und Bildungsbereich, auf den Weg. Diese ganze Arbeit wurde nun durch einen inkompetenten und unverantwortlichen Diktatorenlehrling zunichte gemacht.

Es bleibt allerdings festzuhalten, dass Tunesien, wie alle Maghrebstaaten, mit einem realen Problem konfrontiert ist, das sich weiter verschärfen wird, und das mit seiner geostrategischen Lage verbunden ist.

Aufgrund politischer Instabilität, des Klimawandels, wirtschaftlicher Krisen und einer rasanten demographischen Entwicklung, hat die Jugend in Afrika südlich der Sahara keine andere Wahl als zu emigrieren, vor allem in Richtung Europa. Der Maghreb liegt dabei auf der kürzesten Route und sieht sich Druck aus zwei Richtungen ausgesetzt: dem Migrationsdruck aus dem Süden und dem politischen Druck aus dem Norden, diese Migrationsbewegungen zu stoppen – einschließlich wirtschaftlicher Erpressung als Hebel).

Zwischen diesen beiden gegensätzlichen Kräften gefangen, stehen Tunesien und der Maghreb grundsätzlich vor unmöglichen Entscheidungen.

Unsere eigenen wirtschaftlichen und politischen Krisen schüren den Ansturm gen Norden, der in den Zielländern starke politische Reaktionen auslöst. Heute nutzt die extreme antidemokratische Rechte in Europa die Angst vor Migration und versucht Europa in die 1930er Jahre zurückzuführen. Welche Folgen hätte es für die Demokratie und die Welt, wenn Europa in die dunkelsten Stunden seiner Geschichte zurückkehren würde?

Diese drei großen Fragen konfrontieren alle Maghrebiner*innen – und nicht nur sie – mit enormen Herausforderungen.

Die Frage der irregulären Migration von Nordafrikaner*innen und Afrikaner*innen südlich der Sahara kann nur durch eine großangelegte und langfristige Politik der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gelöst werden – eine Zusammenarbeit zwischen Europa und Afrika als Regionen mit einem geteilten Schicksal.

Die Identitätsfrage stellt sich aufgrund der Globalisierung weltweit. Nur wenn wir unsere Vorstellung von Identität verändern, können wir das gefährliche Monster namens Rassismus in Schach halten. Für uns Maghrebiner*innen bedeutet dies, dass wir aufgrund unserer Geographie und Geschichte arabisch-berberisch-afrikanisch-mediterran sind und unser Afrikanisch-Sein in gleichem Maße annehmen sollten wie die anderen drei Komponenten unserer Identität.

Allein die Integration innerhalb der Region, das heißt die Wiederbelebung der UAM, kann die Wirtschaft unserer Region ankurbeln und damit die Gründe für die Auswanderung unserer Jugend verringern – und zwar auch die der qualifizierten Jugend, die jedoch nur selten von den aufnehmenden Ländern als Geschenk der Ärmsten an die Wohlhabendsten verstanden wird.

Zum Schluss bleibt noch die Frage nach der menschenwürdigen Behandlung von Migrant*innen. Die Maghrebiner*innen würden die schlechteste aller Lösungen wählen, wenn sie die Region in ein von Europa finanziertes Internierungslager verwandeln würden. Für die Europäer*innen wiederum wäre es die schlechteste aller Lösungen, den Kontinent in eine belagerte Festung umzubauen.

Es geht schließlich um unserer aller Zukunft und mehr noch, um unsere Ehre.

Dr. Moncef Marzouki war von 2011 bis 2014 der erste demokratisch gewählte Präsident der Republik Tunesien. Vor der Revolution von 2011 war Marzouki Medizinprofessor und Menschenrechtsaktivist. 2015 gründete er die Partei al-Irada, die sich 2019 in al-Harak umbenannte.

Die Verantwortung für die im Artikel vorgetragenen Inhalte, Meinungen und Quellen liegt beim Autor.